interview with Eva Ziegelhöfer, about DIBBUK


Sehr geehrter Herr Sarhan, Ihrer Biographie habe ich entnommen, dass Sie zunächst Violoncello sowie Ästhetik und Musikgeschichte studierten. Wann begannen Sie zu komponieren, und wann haben Sie sich entschlossen, als Komponist zu arbeiten?


Ich komponierte schon als Kind, hauptsächlich für Cello. Ich war fasziniert von Paganini. Nicht so sehr von seiner Musik, sondern vom Bezug zum Spieler, dem transzendentalen Aspekt der Musik. Als ich dann älter wurde, war mir das Komponieren nicht mehr so wichtig. Meine Interessen lagen jetzt in anderen Bereichen, wie Poesie, Malerei – und ich bin auch heute noch nach allen Seiten offen. Jedoch konzentrierte ich mich von 1994 bis 2007 auf das Komponieren.


Wie kamen Sie zum Komponieren?


Oh, ich war frustriert, dass ich als ausübender Musiker nicht besonders viel Entscheidungsmöglichkeiten hatte. Komponieren schien mir da mehr Freiräume zu bieten.

Gibt es Komponisten, die Sie als Vorbilder für Ihr eigenes Schaffen bezeichnen würden?
Das hat viel gewechselt. Als ich mit dem Komponieren begann, war Pierre Boulez eine meiner Inspirationsquellen; dann studierte ich bei Brian Ferneyhough, den ich auch sehr bewunderte. Inzwischen gibt es eine Vielzahl an Werken, die einen hohen Stellenwert für mich haben, aber nicht wirklich einen bestimmten Komponisten.

Was nutzen Sie als Inspirationsquellen für Ihre Kompositionen?
Meine Anregungen stammen hauptsächlich aus der Jazzrock-Szene. In „Dybbuk“ ist das allerdings nicht hörbar.

Was würden Sie als die typischen Merkmale Ihres Stils benennen?
Ich glaube, es ist die viele Energie, die auf charakteristische Motive gelegt wird, in pseudo-erzählerischer Art. „Dybbuk” ist dafür nicht wirklich typisch, da es lang ist und für Orchester geschrieben. Aber in kürzeren Kompositionen nutze ich die verschiedenen Erscheinungsweisen charakteristischer Motive, die sich ständig verändern.

Die Komposition, die Sie für die Niederrheinischen Sinfoniker geschrieben haben, trägt – wie Sie schon erwähnten – den Titel „Dybbuk”. Darunter versteht der jüdische Volksglaube einen bösartigen Geist, die vom Körper gelöste Seele einer toten Person. Zu Lebzeiten versäumte es diese Person, die an sie gestellten Aufgaben zu erfüllen, deswegen kann sich ihre Seele noch nicht von der Erde trennen. Vielmehr besetzt sie einen lebenden Menschen und erhält so die Chance, die Versäumnisse nachzuholen. Wenn der Dybbuk das erreicht hat, verlässt er den besetzten Körper wieder. Warum wählten Sie dieses nicht besonders sympathische Wesen als Thema für Ihre Komposition? Was war Ihre Inspiration?
Ich hege gemischte Gefühle bezüglich des Orchesters, denn einerseits ist es eine „alte Dame”, andererseits bietet es ein großes Potential an Entfaltungsmöglichkeiten: Dynamik, Klangfarben, Artikulation – und so weiter. Deswegen ist es heutzutage eine Herausforderung für Orchester zu schreiben, viel mehr als elektronische Musik zu machen beispielsweise. Mit diesem Problem im Hinterkopf entdeckte ich diesen jüdischen Glauben und es kam mir in den Sinn, dass das Schaffen eines Komponisten und die Musikgeschichte im Allgemeinen aus solchen co-existierenden Geistern oder Geistigem besteht: Streichquartette, Opern, die verschwinden – und doch wieder zurückkommen. Sie prägen das Bewusstsein einer ganzen Generation und verschwinden wieder. Der Dybbuk ist ein böser Geist. Das ist bei dem Werk nicht der Fall (hoffentlich jedenfalls!). Beim Orchester auch nicht, aber es hat mit einem Geist gemeinsam, aus einer anderen Zeit zu kommen – und mit so vielen starken und wunderschönen Erinnerungen zurückzukommen.

Haben Sie auch sonst einen besonderen Bezug zum jüdischen Volksglauben?
Der jüdische Volksglaube ist sehr reich und ergreift von jeder Lebenslage Besitz. Es ist eine magische und sehr rituelle Lebensauffassung. Die Art, wie dieser Zauber im modernen Zeitalter überlebt, ist ein wunderbares Zeugnis für die Vorstellungskraft. Und die Juden messen unsichtbaren oder vergangenen Ereignissen und Personen genauso viel Bedeutung zu wie den heutigen. Das ist eine gemeinsamer Punkt mit der Musik.

Was sind die charakteristischen Kennzeichen der Komposition? Als ich den Notentext analysierte, fielen mir lange Linien auf und darüber eine rhythmische, sich beschleunigende Figur. Außerdem bemerkte ich eine Art Wechsel zwischen eher bewegten, aufgewühlten Passagen, Kulmination einerseits und Beruhigung andererseits. Zudem fielen mir eine gewisse Dreiteiligkeit auf und Passagen, die in Klangblöcken komponiert sind.

Verschiedene Episoden. Mit Kulmination und ruhigen Stellen, das ist richtig. Generell handelt es sich um eine ständige Veränderung einer Grundform, genauso wie ein Dybbuk, der unter der Oberfläche der Musik versteckt ist. – So ist es auch bei der Beziehung zwischen Solo- und Tuttistellen, wobei die Soli immer zahlreicher werden, dabei aber immer von der „Masse” zugedeckt oder überrollt werden, wie verschwunden in der Vergangenheit oder bezwungen von einer aktuell lebenden Person.

Könnten Sie uns eine Art „Höranleitung“ geben, zum besseren Verständnis der Komposition?

Ich glaube, in der Komposition gibt es eine Entwicklung, die sie einer Tondichtung ähnlich macht, die in sehr romantischer Art interpretiert werden kann: Transformation musikalischer Charakter, Kämpfe – und so weiter.

Mein erster Eindruck bei der Auseinandersetzung mit der Komposition war, dass Sie darin das gesamte „Leben” eines Dybbuks darstellen, von seinem Anfang bis zu seiner Erlösung. Dieser Anschein erwuchs vor allem durch die Ähnlichkeit von Anfang und Ende der Komposition. Ist dieser Eindruck richtig?

Das ist eine sehr denkbare Deutung. Ich selbst möchte die Musik aber nicht zu sehr in Worte fassen. – Und ich meine den Titel „Dybbuk“ eher metaphorisch, ich wollte keine „Programmmusik“ schreiben.

Sie komponieren vor allem Bühnen-, Kammer-, Chor- und Klavierwerke sowie elektronische Musik. Was war die spezielle Herausforderung eines Orchesterwerks? Was veranlasste Sie dazu, ein Orchesterwerk zu schreiben?



Ich habe bisher zwei Orchesterstücke komponiert. Es ist nicht mein Hauptbetätigungsfeld, denn heutzutage hat man nicht oft die Gelegenheit, lange Stücke für Orchester zu schreiben. Ich verfasste dieses Werk, weil ich mich gerne den folgenden Fragen stellen wollte: Was kann ich im klassischen Kontext eines Orchesterstücks erreichen? Worin liegt der Wert für mich? – Ich bin sehr froh, dass ich die Herausforderung angenommen habe und hoffe, das Werk wird beim Zuhörer etwas Interessantes auslösen; aber ich habe mir meine Fragen nicht beantworten können!

march 2010